Entzündungen und Schmerzen
Verlauf / "Abwärtsspirale" im Falle einer unterbleibenden Behandlung:
Karies » Pulpitis »
Pulpenganggrän » apicale Periodontitis / Ostitis »
akute Osteomyelitis » Teilresektion der Mandibula
???
Kann man die Fachbegriffe in dieser Reihenfolge so stehenlassen?
Ganz sicher nicht!
Zunächst aber bedürfen sie der Erklärung:
Karies -
das Wort ist sicher jedem bekannt - meint die Zerstörung von
Zahnhartsubstanzen durch von Bakterien gebildete Milchsäure.
Pulpitis -
die Zerstörung der Hartsubstanzen ist so weit fortgeschritten,
daß eindringende Bakterien zu einer Entzündung der
Weichgewebe im Zahn führen, wobei angemerkt werden muß,
daß Karies lediglich die Hauptursache darstellt; es gibt auch noch
andere Ursachen einer Pulpitis.
Pulpenganggrän - die Entzündung der Pulpa hat zum eitrigen Zerfall der Weichgewebe im Zahn geführt.
Apicale Periodontitis / Ostitis - die Entzündung breitet sich über die Wurzelspitze des Zahnes im Kieferknochen aus.
Osteomyelitis - weite Ausbreitung der Entzündung im Kieferknochen
Resektion - operatives Heraustrennen von Gewebeteilen oder Organen
Mandibula - knöcherne Spange des Unterkiefers
Um es vorwegzunehmen - die Ausbreitung der eitrigen Entzündung in
weiten Teilen des Unterkiefers ist glücklicherweise nur sehr
selten - ungleich häufiger tritt die Bildung eines Abszesses ein -
die eitrige Ausbreitung der den Zahn umgebenden Knochenentzündung
im angrenzenden Weichgewebe. Dann muß die Abszeßhöhle
per Inzision eröffnet werden, damit der Eiter abfließen kann
- ubi pus, ibi evacua - wo Eiter ist muß eröffnet werden, wußte schon Hippokrates.
Sehr zweckmäßig ist in diesem Fall auch die sofortige
Beseitigung der Ursache der Entzündung, z. B. durch Zahnentfernung.
(Vereinzelt existiert noch die
Auffassung, die sofortige Zahnentfernung würde die Gefahr einer
Osteomyelitis (Knochenentzündung) stark erhöhen, insbesondere
im Unterkiefer. Vergleichende Studien haben jedoch gezeigt, daß
dies nicht der Fall ist, im Gegenteil wirkt sich die sofortige
Beseitigung der Ursache der akuten Entzündung sehr günstig
auf den Heilungsprozeß aus. Außerdem kann damit in manchen
Fällen die trotz Lokalanästhesie oft sehr schmerzhafte
Inzision dem Patienten erspart bleiben, nämlich dann, wenn
ausreichend Eiterabfluß über die Extraktionsalveole gegeben
ist, was gar nicht so selten vorkommt.
Es ist nicht ganz klar, wie es zu der Auffassung gekommen ist,
daß der Zahnarzt vor der Zahnentfernung oder chirurgischen
Zahnerhaltung das Abklingen des Abszesses abzuwarten hätte;
möglicherweise ist diese Vorgehensweise ein Relikt aus dem
Mittelalter, als man meinte, "eiternde Zähne würden am besten
von selbst ,herauseitern´" und die Lehre von Hippokrates in
Vergessenheit geraten war.)
Ist die Abwehrlage des Patienten schlecht, so kann sich die
Entzündung in angrenzende bindegewebige Logen ausbreiten, es kommt
zu Logenabszessen. Diese sind
wesentlich seltener als die oben beschriebenen submucösen Abszesse
(Abszesse unter der Schleimhaut, die zumeist ambulant behandelt werden
können) und bedürfen in jedem Fall der stationären
Behandlung in der Kieferklinik, zumeist durch Inzision von extraoral
(von außen).
Ein sehr gefährlicher, wenngleich seltener Logenabszeß ist der Tuberabszeß
- der Abszeß, der zumeist von einem oberen Weisheitszahn
ausgelöst wird. Außer einer leichten Kieferklemme bemerkt
der Patient oftmals wenig von diesem Abszeß, der sich sehr leicht
zum Gehirn und zum Sehnerven hin ausbreiten kann, so daß die
Gefahr einer eitrigen Meningitis / Enzephalitis (Gehirnentzündung)
und / oder die Gefahr der Erblindung des Auges der betroffenen Seite
besteht.
(Um eine Vorstellung von der
Seltenheit eines Tuberabszesses / einer akuten Osteomyelitis im
Unterkiefer zu geben, möchte ich an dieser Stelle anmerken,
daß ich in meiner über 25- jährigen beruflichen
Tätigkeit keinen einzigen Tuberabszeß zu sehen bekam und nur
eine akute Unterkieferosteomyelitis, welche glücklicherweise ohne
größere chirurgische Intervention mit Antibiotikagabe
geheilt werden konnte. Im Gegensatz dazu mußte ich aber bei zwei Patienten
bösartige Tumoren der Mundhöhle diagnostizieren.)
Schmerzen bei Karies, Pulpitis und den Folgeerkrankungen:
Vergleichsweise einfach wäre es, wenn
die kariöse Zerstörung eines vitalen Zahnes immer mit
Schmerzen verbunden wäre, denn als Warnsignal würde der
Schmerz den Patienten rasch zum Zahnarzt führen; und wenn dazu die
vom Patienten beschriebene Qualität der Schmerzen eine eindeutige
Zuordnung zur Art der Pulpitis (reversibel oder irreversibel)
ermöglichte, wäre die zahnmedizinische Welt in diesem Bereich
perfekt.
Leider ist dem aber in der Realität nicht so: Bereits 1933 konnten
Greth et al. in einer Studie feststellen, daß es keinerlei
Beziehung zwischen Schmerz und pathologischem (krankhaftem) Verlauf
gibt.
Kann ein Zahn schon bei vergleichsweise geringer kariöser
Zerstörung mit heftigen pulpitischen Beschwerden reagieren, so
können andererseits die weit fortgeschrittene kariöse
Zerstörung, die Pulpitis, die Pulpenganggrän, die apicale
Periodontitis völlig schmerzfrei eintreten. Meistens entsteht aus
einer solch unauffälligen apicalen Periodontitis nach dem
unauffälligen Absterben des Zahnes eine Zyste an der Wurzelspitze,
die mitunter sehr große Ausmaße annehmen kann; auch recht
häufig entsteht ein Fistelgang, durch den sich in
regelmäßigen Abständen eitriges Exsudat in die
Mundhöhle entleert - durch den regelmäßigen Druckabbau
treten auch hierbei kaum Beschwerden auf.
(An dieser Stelle muß
nochmals darauf hingewiesen werden, daß Zysten und
Fistelgänge der Sanierung bedürfen, da diese in seltenen
Fällen maligne entarten können.)
Kommen nun Patienten mit "Zahnschmerzen" in die zahnärztliche
Sprechstunde, so können sie oftmals nur ungefähr den Bereich
angeben, wo die Schmerzen herkommen, mitunter nicht einmal den Kiefer,
nur die Gesichtshälfte! Handelt es sich um ein bereits
fortgeschrittenes Krankheitsstadium mit beginnender Pulpenganggrän
oder akuter apicaler Periodontitis (eitrige Entzündung an der
Wurzelspitze) so kann in vielen Fällen der Perkussionstest
(Klopftest) zur Diagnose beitragen - im Röntgenbild hingegen sieht
man nur eine bereits länger bestehende Knochenauflösung an
der Wurzelspitze. Die Sicherung der Diagnose mittels Röntgenbild
ist also nur dann möglich, wenn eine bereits länger zuvor
bestehende chronische apicale Periodontitis plötzlich akut wird.
Der elektrische und/ oder thermische Vitalitätstest des Zahnes liefert zusätzliche Hinweise.
Bei
allen Einschränkungen der Schmerzdiagnostik (siehe o. g. Studie
von Greth et al., 1933) können folgende Anhaltspunkte hilfreich
sein:
¶
Eine kurze, heftige Temperaturempfindlichkeit eines Zahnes, die
sehr rasch wieder abklingt, kann auf überempfindliche
Zahnhälse hinweisen, insbesondere beim Reiz auf Kälte. Das
Bedecken des Zahnes mit der warmen Zunge kann rasch Abhilfe schaffen.
¶
Eine dumpfe, langsam ansteigende Schmerzempfindung, die 30
Minuten und länger anhält und durch Wärme hervorgerufen
wird, auch durch warmes Duschwasser oder ein wärmestauendes
Kopfkissen und die durch Kühlung gelindert werden kann, deutet auf
eine irreversible Pulpitis hin, zumeist hervorgerufen durch Karies,
aber auch ein occlusales Trauma (Überlastung des Zahnes, z. B.
beim Knirschen). Soll der betroffene Zahn erhalten werden, ist dies nur
mittels Wurzelfüllung noch möglich, ggf. in Kombination mit
einer Wurzelspitzenresektion (chirurgische Zahnerhaltung).
¶ Die Klopfempfindlichkeit eines Zahnes deutet auf eitriges Geschehen an der Wurzelspitze im Knochen hin.
Natürlich sind die Übergänge in der Realität
fließend, auch weil Schmerzen ein sehr subjektives Phänomen
sind. Trotz aller Einschränkungen, mit der diese anamnestischen
Angaben des Patienten mit Zahnschmerzen bewertet werden müssen,
gibt es Fälle, in denen diese Angaben das einzige sind, worauf
sich eine Therapie stützen kann. Sind die Schmerzen aber zu diffus
und uneindeutig, empfiehlt es sich, abzuwarten: In einigen Fällen
verschwinden diffuse Beschwerden ganz von selbst, ohne daß je
ihre Ursache ermittelt werden konnte, und in solchen Fällen
wäre es sehr nachteilig, wenn eine überflüssige
Wurzelfüllung oder gar Extraktion des Zahnes vorgenommen worden
wäre.
In den anderen Fällen genügen mitunter 2 - 3 Tage des
weiteren Krankheitsverlaufes, um zu einer eindeutigen Bestimmung des
schmerzverursachenden Zahnes (oder anderer Ursachen des Schmerzes) zu
kommen; die dann vorzunehmende Therapie trifft mit Sicherheit nicht den
falschen Zahn.
Erheblichen Leidensdruck verursachen Kieferschmerzen, die andere als zahnmedizinische Ursachen haben, z. B. neurologische.
Die Meinung der Betroffenen, es müsse nun unbedingt der
"schmerzende Zahn" entfernt werden wie auch das Bedürfnis des
Zahnarztes, zu helfen, führen in diesen Fällen sehr leicht
zum Verlust eines bis mehrerer Zähne, insbesondere dann, wenn der
Patient den Zahnarzt wechselt, weil er meint, der Vorbehandler
würde mit seinem Verdacht eines neurologischen Geschehens sich
irren, wenn er mit einer Zahnentfernung zurückhaltend ist - da
doch er/ sie, der/ die Patient(in), eindeutig den "schmerzenden
Zahn" spürt! Das Ergebnis dieser wechselseitigen Dynamik ist dann
gar nicht so selten ein von Zähnen leergemachter Kiefer, in deren
Folge bei persistierenden Schmerzen Zahnarzt wie Patient bitter
erkennen müssen: Die Schmerzen haben wohl doch andere als
dentogene (von Zähnen herrührende) Ursachen!
Osteomyelitis (Knochenentzündung):
Sind besonders aggressive Bakterien über den Wurzelkanal
des zerstörten Zahnes in den Kieferknochen gelangt und/ oder ist
die Abwehrlage des Patienten beeinträchtigt, z. B. durch
Immunsuppressiva, Systemerkrankungen, hohes Lebensalter, angeborene
oder erworbene Immundefekte etc., so kann sich das umschriebene
eitirige Geschehen an der Wurzelspitze des abgestorbenen Zahnes im
gesamten Kiferknochen ausbreiten, wobei meistens der Unterkiefer
betroffen ist.
Rasende Schmerzen, multiple Abszesse,
gelockerte Zähne und eine rasche Beeinträchtigung der
Sensibilität der Unterlippe der betroffenen Seite (Vincent- Symptom) stellen das Vollbild einer akuten eitrigen Osteomyelitis
dar. Behandelt wird diese mit hochdosierter Gabe knochengängiger
Antibiotika, mit der Inzision der Abszesse und ggf. Schienung
gelockerter Zähne.
Angestrebt wird hierbei die vollständige Ausheilung des Prozesses,
vermieden werden soll die Chronifizierung, an deren Ende nach
verschiedenen kieferchirurgischen Interventionen als letztes Mittel
tatsächlich nur die Teilresektion der Mandibula, d. h. die
Entfernung der knöchernen Spange des Unterkiefers steht.
Resumee:
Die eingangs beschriebene "Abwärtsspirale" existiert also
weder zwangsläufig noch unaufhaltsam. Auf jeder Stufe kann in
den allermeisten Fällen therapeutisch erfolgreich interveniert
werden; wichtig ist aber die richtige Wahl der Mittel: Eine
Antibiotikatherapie ist nur sehr selten notwendig, keinesfalls
dürfen Antibiotika als Schmerz- oder Fiebermittel mißbraucht
werden (in der Vergangenheit kam es mitunter vor, daß bereits bei
einer Pulpitis Antibiotika verordnet wurden - mit den bekannten Folgen
der Entwicklung multiresistenter Bakterien!).
Der beste Schutz aber besteht nach wie vor in regelmäßigen zahnärztlichen Kontrollen zwei mal im Jahr!