Wurzelfüllungen
Historische Betrachtung (Quelle: Michael A. Baumann, Deutsche Gesellschaft für Endodontie 2004)
Bei
schmerzenden und/oder kariös oder traumatisch geschädigten
Zähnen wird man sich als Zahnarzt wie auch als Patient immer
fragen, ob es möglich und sinnvoll sei, den betreffenden Zahn zu
erhalten oder besser zu entfernen.
Nur in seltenen Fällen können schmerzende Zähne
dauerhaft ohne Wurzelfüllung erhalten werden, denn Schmerzen
gehen, von nichtdentogenen Ursachen einmal abgesehen, immer von der
Pulpa (dem lebenden Weichgewebe im Zahninneren) oder von
Knochenentzündungen an der Wurzelspitze des Zahnes aus.
Um die Verhältnisse im Zahn und im Kieferknochen beurteilen zu
können, sind Röntgenbilder erforderlich. Daher konnten
Zahnerhaltungsmaßnahmen, die mit dem Abfüllen des
Pulpenkavums (des Hohlraumes im Zahninneren) verbunden sind, erst mit
der Einführung der Röntgentechnik erfolgreich
durchgeführt werden.
Erste Aufnahmetechniken wurden an der
Münchener Universität in den Jahren 1907- 1911 von Antoni
Cieszynski, Wilhelm Dieck und Otto Walkhoff beschrieben.
Vorausgegangen waren Otto Walkhoffs Röntgenaufnahmen im
Selbstversuch, die eine Belichtungszeit von 25 Minuten erforderten und
eine Entwicklungszeit der Fotoplatte von etwa einer Stunde. Im Januar
1896 hatte Wilhelm Conrad Röntgen seine Erfindung vom 8. November
1895 bekannt gemacht; schon zwei Wochen später machte Otto
Walkhoff seine Versuche, die im Nachhinein in damals vorherrschender
Unkenntnis der Gefährlichkeit der Röntgenstrahlen nur als
heroisch bezeichnet werden können.
Waren Otto Walkhoffs erste Aufnahmen noch gänzlich unbrauchbar zur
zahnmedizinischen Diagnose, so konnte bereits im Februar 1896 Walter
König mit einer Belichtungszeit von 9 Minuten wesentlich
schärfere und aussagekräftige Bilder von Frontzähnen
erstellen.
Im April 1896 beschrieb Edmund Kells in New Orleans die
röntgenologische Darstellung aller Zähne, auch der
Seitenzähne mit Belichtungszeiten zwischen 5 und 15 Minuten. Im
gleichen Jahr eröffnete er die erste zahnmedizinische
Röntgenklinik in den USA. Durch Bleidraht, der in die
Wurzelkanäle eingeführt wurde, schuf er die erste
Röntgenmeßaufnahme zur Bestimmung der Kanallänge. Durch
Strahlenschäden verlor Kells zunächst einen Arm, kurz darauf
sein Leben.
(Zum Vergleich: Die Belichtungszeiten heutiger digitaler Zahnfilme betragen 0,08 - 0,1 Sekunden!)
Betrachtet man die jahrtausendelangen Versuche der Erhaltung von
schmerzenden Zähnen, so ist die Eile, mit der man sich der
Röntgentechnik auch in der Zahnmedizin bemächtigte, nur allzu
verständlich.
Verweise auf Entzündungen der Pulpa finden sich schon im Papyrus Eber 1550 vor Christus.
Pierre Fauchard beschrieb im Jahre 1728 noch den Zahnwurm als Ursache
von Karies und Zahnschmerzen; in seinem Werk "Le Chirurgien Dentiste"
gibt es aber auch bereits Hinweise zur Trepanation (Aufbohren) von
schmerzenden Zähnen und der Kauterisation der Pulpa
(Verbrennen der Kronenpulpa mit einer glühenden
Drahtschlinge, natürlich ohne Anästhesie, denn diese gab es
erst ab 1844). Bei Fauchard finden sich daneben erste Hinweise zur
Extirpation der Wurzelpulpa (Herausholen aus dem Wurzelkanal). Die dazu
notwendige Extirpationsnadel aber entwickelte erst Edward Maynard 1833,
indem er eine Uhrfeder zu einer einseitig gezackten Reibahle von der
Stärke eines Pferdehaars umarbeitete. Zur
Längenbestimmung mittels Austasten des Wurzelkanals sollte dieses
Instrument auch verwendet werden können.
Die von Adolf Witzel im Jahre 1847 beschriebene Methode, auf die
eröffnete Pulpa ein Arsenpräparat zu legen, um zu einer
dauerhaften Konservierung (Gerben, Mumifizierung) der Weichgewebe im Wurzelkanal zu
kommen, konnte nur der damaligen Unmöglichkeit der bildlichen
Darstellung geschuldet sein. Adolf Witzels Hoffnung erfüllte sich
nicht. Zwar wurde zunächst der pulpitische Schmerz durch
Herbeiführung einer Pulpennekrose (abgestorbenes Gewebe)
beseitigt, es begann aber unmittelbar darauf die Entzündung im
Kieferknochen an der Wurzelspitze des Zahnes als Reaktion auf das
nekrotische und bakteriell infizierte Gewebe. Meistens führte
diese nach wenigen Wochen erneut zu Zahnschmerzen, welche dann nur
durch Zahnextraktion beseitigt werden konnten.
Adolf Witzel selbst hat noch zu seinen Lebzeiten versucht, seine
diesbezügliche Lehre zu korrigieren, leider aber hatte sich diese
scheinbar einfache und bequeme
Methode der "Mortalamputation" bereits in der Zahnheilkunde etabliert
und wurde trotz offensichtlicher Erfolglosigkeit bis weit in die zweite
Hälfte des 20. Jahrhunderts praktiziert und obwohl durch die
rasche Verbreitung von Dentalröntgengeräten die durch die
Mortalamputation verursachten periapikalen Läsionen
(Knochenentzündungen an der Wurzelspitze) nachgewiesen wurden.
Mit der Begründung der modernen Bakteriologie durch Robert Koch
(Nachweis des Milzbranderregers 1876 und des Tuberkuloseerregers 1882)
hielten die Prinzipien der Antisepsis auch in der Zahnheilkunde Einzug.
Im Jahre 1873 beschrieb Adolf Witzel die "Sterilisation" der
Wurzelkanäle mit Carbolsäure und Phenol; andere Autoren
empfahlen Formaldehyd, Schwefelsäure und Salzsäure. 1891
erfand Otto Walkhoff die noch heute verwendete Mischung aus
Chlorphenol, Kampfer und Menthol (CHKM), die den typischen Geruch einer
Zahnarztpraxis ausmacht.
Die Kombination des seit 1818 verwendeten Wasserstoffperoxids und des
seit 1915 zur Wunddesinfektion gebrauchten Natriumhypochlorits wurde
zur Wurzelkanalspülung 1943 von Grossmann beschrieben. Diese
Kombinationsanwendung ist bis heute ebenso wie das CHKM in den
Zahnarztpraxen zu finden.
Die Beschreibung der frühesten Wurzelfüllungen selbst findet
sich wiederum bei Pierre Fauchard 1728 mit Blei, danach folgen
Bourdet 1757 mit Blei und Goldfolie, Townsend 1804 ebenfalls mit
Goldfolie. Edward Hudson hinterließ mehrere Rechnungen aus den
Jahren 1809 bis 1825 über die retrograde Wurzelfüllung
mit Goldfolie (nach chirugischer Eröffnung des Knochens und
Wurzelspitzenresektion vom Ende des Wurzelstumpfes her).
Die zu diesem Zeitpunkt noch nicht mögliche röntgenologische Darstellung umging er auf diesem Wege.
Herdlehre
Zu Anfang des 20. Jahrhunderts sorgten wenige Sätze von W. Hunter
(1900/1910) und Billings (1904) in Fachzeitschriften und Vorträgen
für eine nahezu 50 Jahre lang anhaltende Diskussion über
die möglichen Auswirkungen der bakteriellen Besiedelung der
Zähne und des Endodonts auf den gesamten Organismus des Menschen.
Unter goldenen Mausoleen (Kronen, Inlays,
Goldhämmerfüllungen) sollten sich avitale Zähne und die
damit verbundenen chronischen Entzündungsprozesse verbergen;
aus ihnen würden immer wieder Bakterien und deren toxische
Stoffwechselprodukte streuen, die dann die Ursache von Allergien,
Bluthochdruck, Herzerkrankungen, rheumatischen Erkrankungen,
Kopfschmerzen usw. sein sollten. Selbst nach Sanierung der "Herde"
durch Zahnextraktion bliebe ein "Störfeld" zurück, welches
für das Persistieren der Erkrankung verantwortlich wäre.
Diese Lehre warf die Entwicklung der Endodontie - der Zahnerhaltung von
bereits geschädigten Zähnen - um etwa 50 Jahre zurück.
Hunderttausendfach wurden Zähne entfernt, die man auch mit den
damaligen Mitteln leicht hätte erhalten können, sogar gesunde
Zähne fielen massenhaft der "Störfeldtheorie" zum Opfer.
Heute wird die Frage nach dem Einfluß endodontischer Erkrankungen
auf den Gesamtorganismus wieder neu diskutiert. Vor allem
Zusammenhänge zwischen periodontalen Erkrankungen (Zahnfleisch und
Zahnhalteapparat) zu Herzerkrankungen und Neigung zu Frühgeburten
werden vermutet.
Patienten mit Endocarditis (Erkrankungen der Herzinnenhaut und der
Herzklappen) sollen bei bestimmten chirurgischen Eingriffen zuvor
antibiotisch abgeschirmt werden- doch auch hierbei sind die
zunächst sehr weitgehenden Empfehlungen wieder deutlich reduziert
worden. Bei jeder Zahnsteinentfernung und sogar bei jedem
Zähneputzen gelangen Bakteien aus der Mundhöhle in die Blutbahn, mit denen das Immunsystem fertig werden muß!
Glücklicherweise heißen die Konsequenzen zu Beginn des 21.
Jahrhunderts in diesen Fällen zumeist nicht "Zahnentfernung",
sondern Sanierung mittels Wurzelfüllungen und gegebenenfalls
chirurgischen Maßnahmen der Zahnerhaltung.
Nur bei Patienten in Vorbereitung einer Organtransplantation gelten besondere Maßstäbe.
Therapeutische Prinzipien
Es erscheint logisch, daß eine langfristige Zahnerhaltung mittels
Wurzelfüllung nur möglich ist, wenn der aufbereitete
Wurzelkanal bakteriendicht verschlossen ist. Daher besteht die
Wurzelkanalbehandlung aus der Aufbereitung des Kanals mittels geeigneter Instrumente, der Spülung mit antibakteriellen Spülflüssigkeiten und der Füllung mit einem dicht schließenden Wurzelfüllmaterial.
Für jeden dieser Arbeitsschritte gibt es die unterschiedlichsten
Methoden und Materialien, basierend auf verschiedenen Theorien und
Denkansätzen. Jede Methode findet hierbei ihre besondere Eignung
für bestimmte klinische Fälle, aber ebenso auch ihre Grenzen.
Bei der Aufbereitung beispielsweise lassen sich Methoden mit starkem
Substanzabtrag im Kanal Methoden mit nur sehr wenig Substanzabtrag
gegenüberstellen. Einige Zahnärzte bevorzugen die manuelle
Aufbereitung, andere die maschinelle.
Dem erhöhten Instrumentenbruchrisiko bei der maschinellen
Aufbereitung soll mit drehmomentbegrenzenden Geräten begegnet
werden, was sich mitunter aber als Chimäre erweist.
Bakterizide Spülflüssigkeiten zur Bakterienreduktion im
Wurzelkanal sind natürlich gewebetoxischer als physiologische
Kochsalzlösung, die jedoch keinerlei keimvermindernde Wirkung
besitzt.
Ähnliches gilt für die Wurzelfüllmaterialien.
Diffizile Behandlungsmethoden, die sehr aufwendig werden können,
sind zu den Honoraren der Gesetzlichen Krankenversicherung nicht
durchführbar. Ohne in diesem Artikel eine Bewertung vornehmen zu
wollen, sei aber erwähnt, daß Zahnarzt und Patient sich im
Vorfeld gemeinsam überlegen müssen, in welchem
Verhältnis finanzieller und Behandlungsaufwand und -ergebnis
stehen sollen.
Erfolgsaussichten
Auch die aufwendigste Behandlung kann nicht den Erfolg der Zahnerhaltung garantieren!
Naturgemäß sind einwurzelige Zähne leichter und
mit größeren Erfolgsaussichten zu therapieren, als
mehrwurzelige.
Zähne, die einem langjährigen occlusalen Trauma unterworfen
waren und reaktiv viel Tertiärdentin (Hartsubstanz) im Wurzelkanal
gebildet haben (gleiches liegt oft auch bei Zähnen älterer
Patienten vor), sind sehr viel schwerer und mit weniger Erfolg
aufbereitbar als vergleichsweise jugendliche Zähne mit großem
Kanallumen.
Bereits infizierte und nekrotische Wurzelkanäle führen zu
schlechterer Langzeitprognose für den jeweiligen Zahn im Vergleich
zu Wurzelkanälen mit noch vitaler Pulpa.
Da manche Zähne im Unterkiefer mit ihrer Wurzelspitze unmittelbar
am Alveolarkanal mit dem sich darin befindlichen Nerven (N. alveolaris
inferior) enden, besteht die Gefahr bei einer Abfüllung des
Kanals, daß Wurzelfüllmaterial in den knöchernen Kanal
gelangt und den Nerven schädigt. Sollte dies der Fall sein,
muß das Material umgehend chirurgisch entfernt werden, da
ansonsten der Nerv toxisch dauerhaft geschädigt wird, was zum
sensiblen Ausfall an der Unterlippe der betroffenen Seite führt.
Im Oberkiefer kann Wurzelfüllmaterial in die Kieferhöhle
gelangen, was nach Möglichkeit ebenso vermieden werden sollte,
wenn auch die Konsequenzen weniger problematisch sind als die des
Wurzelfüllmaterials im Alveolarkanal.
Vorgehen in unserer Praxis
Es hat sich gezeigt, daß die besten
Langzeiterfolgsaussichten einer Wurzelfüllung dann bestehen, wenn
im Vitalverfahren gearbeitet werden kann.
Sollten pulpitische Schmerzen oder die Eröffnung einer
symptomlosen vitalen Pulpa bei einer penetrierenden Karies vorliegen,
so wird die Bakteriendichte in den Wurzelkanälen noch gering sein.
Dieser große Vorteil sollte, was leider nicht immer möglich
ist, ausgenutzt werden, indem noch in der gleichen Sitzung die
Kanäle aufbereitet und abgefüllt werden. Die
medikamentöse Zwischeneinlage kann ansonsten bei undichtem
Verschluß leicht die Mundbakterien in den Wurzelkanal
hineinsaugen.
Bei avitalen (abgestorbenen) Zähnen leistet die kombinierte
Spülung mit 10% Wasserstoffperoxid und auf 37°C erwärmter
1%iger Natriumhypochloritlösung gute Dienste zur
Bakterienreduktion. Die Durchspülung eines Fistelganges mit 10%
Wasserstoffperoxid führt fast immer zu dessen Verschwinden nach
Spülung in nur einer Sitzung.
(Nur äußerst
selten verursacht Wasserstoffperoxid ein harmloses, wenngleich etwas
unangenehm überraschendes Gasödem, eine rasche Anschwellung
der Weichgewebe, durch seine Zersetzung in Wasser und Sauerstoff.
Dieses verschwindet ohne weitere Komplikationen nach wenigen Tagen. In
ca. 20 Jahren Praxistätigkeit sind diesbezüglich drei
Ereignisse aufgetreten. Dies ist unserer Meinung nach kein Grund, auf
dieses hochwirksame und verträgliche Medikament zu verzichten!
Andernfalls würden weitaus weniger Zähne erhalten werden
können.)
Als Wurzelfüllmaterial kommt oft "Proxiapex" zum Einsatz, ein
Material, welches den Spagat zwischen Bakterizidität und
Gewebeverträglichkeit recht gut meistert.
(Es enthält Propolis,
ein Desinfektionsmittel, welches Bienen herstellen, wenn die einzelnen
Zellen in den Waben für die erneute Eiablage und
Brut vorbereitet werden.)
Sollte überfüllt werden, was bei Knochenentzündungen an
der Wurzelspitze durchaus wünschenswert sein kann, so wirkt dieses
Material dort auch gegen die Entzündung und wird über einen
längeren Zeitraum auch wieder resorbiert, sofern es sich nicht im
Wurzelkanal befindet.
Wenn geboten, kann sich in einer späteren Sitzung eine
Wurzelspitzenresektion anschließen, um die Knochenentzündung
auszuräumen. Da eine Operation aber immer nur zur Defektheilung
führt, was die Stabilität des Zahnes negativ beeinflussen
kann, sind wir mit Operationen entsprechend zurückhaltend.
Unser Bemühen bei Wurzelkanalbehandlungen geht auch dahin,
daß möglichst wenig bis keine zusätzlichen Kosten
für die Patienten entstehen.
Trotz guter Therapieerfolge ist es aber weitaus besser, wenn
überhaupt keine Wurzelkanalbehandlung durchgeführt werden
muß. Das kann erreicht werden durch konsequente Prävention
von Zahnerkrankungen sowie durch frühzeitige minimalinvasive
Füllungstherapie mit weitgehender Schonung der Zahnhartsubstanzen,
denn
immer noch sind die meisten Wurzelkanalbehandlungen Folge kariöser
Zerstörung von Zähnen; nur wenige kommen indessen als
Traumafolge zustande.